MEIN DORF
(statt eines Vorwortes)
MEIN DORF ist ein verstreutes Dorf gewesen, lag im Gebirge, hatte
Wälder, Gehöfte, Felder - große & kleine, Äcker & Wiesen, Almen,
einen einzigen Bach und damit ein Tal, ein Ober- & ein Unterland,
und weil die Flächen so klein waren, wie geklöppelte Spitzentüchlein
eins neben dem anderen, über-, hinter- & beieinander lagen, hießen
die Bewohner es in früheren Zeiten: das Oberlandl & das Unterlandl.
Und weil es nicht mehr ist wie früher, nur ein kleines Land in mir,
weit in der Vergangenheit, so weit, dass man es nicht mehr wird
verstehen können, will ich es aufheben wie es in mir zum Bild
geworden ist, und sei es für mich allein, denn wir haben
Menschenkinder, die studiert haben werden alles Mögliche: die
Antike, die Weltgeschichte, die Klassische Musik, die hohe Medizin,
die Technologien, aber sich nicht vorstellen können werden, woher
sie kommen und was alles vorausgegangen ist, bis sie dort angelangt
waren, wo sie jetzt sind.
Das Leben der Mütter & Väter ist vergessen & verloren, vergangen für
immer.
Benannt ist der Ort nach zwei Tieren, jenen Geschöpfen, die nach
einer Pestseuche vor sechs/ siebenhundert Jahren übrig geblieben
sein sollen, einer Ziege und einem Schwein, genauer gesagt, einer
Geiß und einer Sau.
Beide leicht zu ernährende & bescheidene Haustiere, die in aller
Kärglichkeit die Zeiten des Hungerns & Fastens überstanden haben und
gerade darum gehalten & gezüchtet wurden.
Denn, wo der Boden hart war, dünn & steinig, dort fristeten nicht
nur die Menschen ein trostloses & ärmliches Dasein, sondern auch die
Tiere, die ihnen ganz & gar ausgeliefert waren.
Dennoch brachten es etliche dieser Leute zu Wohlstand im
ortsüblichen Sinn, andere blieben dagegen zurück, besaßen nur
Keuschen - kleine Häuser mit einem Stall - einer einzelnen Kuh
darin, einer Ziege, einem Schaf; ein paar Hühner & Hasen, ein
Schwein, einen kleinen umzäunten Gemüsegarten.
Aber diese Keuschler, die Häusler, die so gut wie keinen Viehstand
hatten, sich mit Lohnarbeit dort & da, dann & wann verdingten,
selbst sie gehörten noch zu einer Art besitzenden Klasse, sie
konnten wenigstens irgendetwas ihr Eigen nennen.
Schließlich gab es ja noch den weit größeren Teil der Einwohner -
die, welche über kein noch so kleines Besitztum verfügten, denen
kein Baum, kein Quadratmeter, kein Huhn und also auch kein Ei
gehörte, nichts, das sie mit einem Zaun, einem Gatter, einem Namen
hätten versehen können.
Sie waren Knechte & Mägde, die vielen Übrigen: die verstoßenen,
versteckten, nicht selten verschenkten & verleugneten Kinder einer
kinderreichen Gesellschaft.
Sie waren gezeugt worden, genau wie die anderen, Tag & Nacht,
sommers & winters, in Lust & Schrecken, in der Finsternis des
Waldes, im Stall, in den Heuschobern & Tennen, in hölzernen Alkoven,
geboren in Schande & Scham, die Frucht der Geilheit wie der
Gleichgültigkeit, der Grausamkeit, der Verzweiflung.
Nicht alle stammten aus armen Häusern, aus außer-ehelichen
Verhältnissen, der Notzucht, nein, sie kamen mitunter von den ersten
& besten Höfen, doch das ungeschriebene überlieferte Gesetz des
Erbens & Vererbens machte nur den erstgeborenen männlichen
Nachkommen eines Ehepaares zum Bauern & Besitzer des Anwesens.
Die Brüder & Schwestern, die danach geboren wurden, hatten keinen
Anspruch auf ein Auskommen. Weil nicht genug für alle da war, tat
man so, als gäbe es sie nicht.
Sie durften, wenn sie Glück hatten, unter der Duldung des Bruders &
dessen Frau, auf dem Hof arbeiten, für einen Strohsack, auf dem sie
schliefen & einen Saufraß ein Leben lang.
Sie hießen 'Die Weichenden', denn sie mussten weichen - ihrem
ältesten Bruder, ihrer Schwägerin, den Nichten & Neffen.
Nur bei wenigen ging es so hoch & anständig her, dass sie eine
Abfindung in Form einer Kuh bekamen, dafür mussten sie fort von zu
Hause, heiraten, sich anderswo umschauen, einem anderen Hof ihre
Dienste antragen, die meisten aber erhielten gar nichts und konnten
auch nicht bleiben.
Es gab zehn, zwölf, fünfzehn, sechzehn und mehr Kinder in einer
einzigen Familie, alte Leute waren da, übrig gebliebene Knechte &
Mägde, kranke, zerschundene, abgerackerte Menschen, Einleger,
Bettgeher, Bettler; alle möglichen Gestalten mussten durchgefüttert
und in Verwahrung gehalten werden, irgendwie.
Die Bauernhöfe, von denen ich erzähle, waren oft solche - nicht nur
- aber auch.
Sie konnten äußerlich einen durchaus imposanten Eindruck machen,
waren riesige, steinerne oder hölzerne Kästen, ruhten auf tiefen
Fundamenten, waren Teil des Berges selbst mit vielen Räumlichkeiten,
hatten einen oder mehrere Ställe, Balkone, Loggien, Umgänge in zwei,
drei Stockwerken übereinander mit einem gewaltigen Schindeldach über
allem; Kamine, Tore & Türen, Fenster - unzählige - mit Balken &
Läden, Gittern & Schnitzereien.
Dahinter verbarg sich ein Hofstaat in einem anderen, einem
bäuerlichen Sinn, war etwas, das den Namen Staat verdiente.
Der Herr dieses Hauses & Staates war der Bauer wie anderswo der Herr
im Hause Habsburg.
Man war unabhängig, hatte eigene Gesetze & Gepflogenheiten.
So konnte es auf einem Hof groß hergehen, mit Kleidung & Essen,
herrschaftlicher Ausstattung & Feierlichkeiten, während auf einem
anderen Knausrigkeit & Geiz den Ausschlag gaben.
Einmal hatten es die Dienstboten gut, woanders kaum zu essen, wurden
traktiert & gequält, gestraft, geschlagen, ausgenutzt.
Von außen unterschied sich dieser Kosmos nicht von einem anderen,
drinnen konnte der Himmel sein oder die Hölle, Freundlichkeit oder
Gehässigkeit, Freude oder Elend, Glück oder Unglück.
Es war wie überall & immer, Wirklichkeit & Schein konnten eng
beieinander liegen oder unendlich weit voneinander entfernt sein.