IN DEN ALTEN TAGEN
EIN ZIGEUNERHOF
EINST GING DEN Zigeunern ein schlechter Ruf voraus; wenn sich ihre
Planwägen einer Ortschaft, einem Tal, einem Bergdorf näherten,
begann man, seine Dinge sorgfältiger zu verräumen, die sonst Tag &
Nacht offenen Haus- & Hoftüren zuzusperren, Schlösser anzubringen
auch in den Zuhäusern & Wirtschafts-gebäuden, den Schuppen &
Heustadeln, die Hühner in die Steige zu treiben, nicht bei
nachtschlafener Zeit unterwegs zu sein.
In Wahrheit kamen sie als Kesselflicker, Korbflechter, Scheren- &
Messerschleifer, Teppichhändler, Kaufleute für dieses & jenes; sie
führten die verschiedensten & fremdartigsten Gegenstände mit sich:
Ikonen mit goldenem Hintergrund, winzige allerliebste Madonnen mit
dem Jesus-Knäblein, die beide Platz fanden in der Fläche einer Hand,
zusammen mit dem glitzernden Heiligenschein, silberne Amulette,
Wachsgebilde, bestickte Tücher mit goldenen Fransen, Strickwaren,
bunte Wolle und glänzenden Schmuck, waren Jahrmarktgaukler,
Seiltänzer, Handleserinnen, Traumdeuter, Wahrsagerinnen,
Lebenskünstler, Tänzer & Musiker.
Die Schönheit ihrer Frauen war berühmt, und wenn die Bauern &
Knechte auch auf sie schimpften, so konnten sie sich doch im
Geheimen nichts Besseres & Aufregenderes vorstellen, als es einmal
mit so einer Rassigen zu haben.
Teufel noch mal, das müsste was anderes sein, als immer das Gleiche
mit der Alten, die derweil ihre Gebete heruntersagte und dann zur
Beichte lief und dem Pfarrer quasi bettwarm alles erzählte.
So hölzern & verstockt konnte der älteste Austragbauer nicht sein,
dass er sich beim Anblick einer 'Solchernen' nicht mit der Zunge
über die Lippen fuhr, ihm nicht alles Mögliche durch den Kopf ging
und er nicht seine gut versteckten, geilen Phantasien hervorgekramt
& aufgewärmt hätte.
Die Zigeuner waren Christenmenschen wie die Ansässigen auch, dennoch
wagten sie sich selten sonntags irgendwo in die Heilige Messe.
Hatte man ihnen denn nicht vielerorts die Kirchentür vor der Nase
versperrt, ihnen keinen Eintritt gewährt, Steine nachgeworfen, sie
angespuckt und beschimpft!
War man vielleicht nicht handgreiflich geworden, wenn man meinte,
sie würden sich das Gleiche herausnehmen wie man selbst!
Was man nachts in den Kammern und bei sich selber dachte, wusste man
beim helllichten Tag nicht mehr, konnte sich nicht erinnern an die
schmutzigen Gedanken, die kein Beichtvater je zu hören bekam, dazu
man aber solcherlei Menschen in der Dunkelheit missbrauchte.
Diese durften keine Berührung haben mit dem, was einem heilig war,
denn in ihren Augen gab es zweierlei Völker vor Gott dem Herrn: die
anständigen Bauern & Einheimischen und die Zigeuner - das Gesindel,
die Verbrecherischen - dazu geboren, das Schlechte zu
transportieren, den Sündenbock abzugeben für die Vergehen der
anderen.
Ab & zu, dort & da fand sich ein Geistlicher, der ihnen allein eine
Messe las, draußen auf dem Feld, im Wald, in einer abgelegenen
Kapelle, dann & wann - zu unchristlicher Zeit sozusagen - in der
Dorfkirche gar.
Sie baten darum, ihre Kinder taufen, die Sakramente empfangen zu
können.
Dann zogen die Bauern ihre Vorhänge zu und spähten dahinter heraus,
allesamt wurden sie bewegt von Geisterhand - die Vorhänge, in den
finsteren wie den erleuchteten Fenstern gingen die gemusterten
Stoffe hin und her.
Denn draußen spazierten die Zigeuner vorüber, im Festtagsgewand,
Männer in schwarzen Hosen und weißen Hemden, Frauen in üppigen
Kleidern; schwarze Haare, schwarze Augen, rote Haare, grüne Augen,
mit bunten Kopftüchern & Schleiern, mit Hüten, mit Locken & Schmuck
im Haar, an den Händen, den Füßen, kleine Glocken an den
Fußgelenken, goldene Zähne, Gold um den Hals, Silber, Perlen & Tand.
Die Frauen umgeben von anderen Frauen und ihren Kindern, die Männer
von ihren Familien, bunt & fröhlich, singend & spielend, aber auch
trauernd & klagend, wenn es ein Totenzug war.
Dann schwankte auf den Schultern der Männer ein Sarg von solcher
Pracht, glänzten in der Sonne, im Regen Goldbeschläge, fiel Schnee
auf die schwarzen Bänder, die Blumen & Zweige, dass man meinen hätte
können, ein Kaiser, ein Gott würde zu Grabe getragen.
Die Musik, die den Konvoy begleitete, war das, was man unter der
Zigeunermusik, den Teufelsgeigern verstand, an der offenen Grube
noch tanzten sie und spielten hinab, hielten ihr letztes Gelage mit
dem Verstorbenen, ehe sie ihn zurücklassen mussten.
Stolz, herausfordernd zogen sie vorüber an den Häusern.
Wenn sie Hochzeiten feierten, ging es hoch her, Braut & Bräutigam
waren wie ein Königspaar, der ganze Stamm an diesem Tag ihre
Dienerschaft.
Die Bäuerinnen & Bauernmädchen, die Tag um Tag, auch zu den besseren
Zeiten und in besseren Verhältnissen, züchtig & bescheiden
einhergehen mussten, sahen sich leid an der Pracht, welche die
Zigeuner dem Leben zu geben verstanden.
Zwar besaß man Häuser & Höfe, Land & Gut, doch war es nicht üblich,
etwas von seinem Wohlstand zu zeigen, das Seine zu genießen oder es
gar zur Schau zu stellen.
Der Besitz musste für alles reichen & herhalten, diese Art
Sicherheit, Grund & Boden waren der Sinn des Lebens, die Würde des
einzelnen wurde nur dadurch bestimmt, denn allein und ohne dies,
zählte er nichts.
Es war nicht üblich, Schmerz oder Freude zu zeigen, galt als
verweichlicht & schamlos.
In den stillen, kargen, oft finsteren Kammern verzehrten sie sich
nach der Schönheit, der Liebe, dem Vergnügen, dem Verbotenen.
Einen Spiegel zu besitzen oder zu benützen, war eine Sünde, die
gebeichtet werden musste & gesühnt, Schmuck zu tragen nur zu
bestimmten Zeiten erlaubt, die meisten Frauen besaßen gar keinen.
Die Hand einer Frau zierte nichts als der Ehering, dünn & abgewetzt.
Die Kleider waren durchwegs dunkel, die Haare streng & fest
frisiert, sogar kleine Mädchen durften sie nicht offen tragen.
Nicht dass es nicht auch Lockerungen & Abweichungen gegeben hätte,
Übertretungen & Missachtungen dieser ungeschriebenen
Gesetzlichkeiten, doch in Wirklichkeit unterlagen diese
Gepflogenheiten in der Öffentlichkeit einem uralten Kodex, den jeder
von klein auf kannte & wusste, der weit mehr war als ein Brauch,
eine Tradition, vielmehr die Möglichkeit dazuzugehören, denn wer ihn
nicht beachtete, stieß sich selber aus, machte sich zum Außenseiter.
Natürlich gab es immer welche, die sich hinwegsetzten, die
Reicheren, die Gescheiteren, die Dreisteren, solche, die mit etwas
Besonderem ausgestattet waren wie ungewöhnlicher Schönheit,
Klugheit, Phantasie oder einfach mit Geld, das zweifellos die meiste
Anziehung von allem besaß.
Für alle anderen galt: die Bescheidenheit, die Sittsamkeit, die
Folgsamkeit gegenüber den Eltern & Großeltern, dem Lehrer, dem
Pfarrer, denn im letzten stellten diese Figuren eine Art
Gottesgesandtschaft dar, und ein Verstoß gegen die Anordnungen
dieser Personen war ein Vergehen gegen die göttliche Weltordnung
selbst.
Schon bei scheinbar kleinen Delikten wie dem Tragen eines
Sonntagskleides am Werktag, dem Verzehr eines Festtagsschmauses an
einem gewöhnlichen Tag, dem Offenlassen der Haare, dem Unterlassen
einer Wallfahrt an einem dafür bestimmten Tag, dem Jammern über
Schmerz & Krankheit, dem Abhalten eines Mittagsschlafes hieß es:
"Versündige dich nicht!" "Sie hat sich versündigt, weil sie am
Freitag Fleisch gegessen hat, in der Fastenzeit gelacht!"
Alles, was den Sesshaften verboten war, schien den Zigeunern erlaubt
zu sein, ja, es hätte einer meinen können, Gott habe den einen den
Besitz, Grund & Boden gegeben, den anderen aber das Leben selbst,
die geradezu unbändige Schönheit dieses Lebens.
In Wahrheit dürften die Dinge gerecht verteilt gewesen sein, wenn
sich auch der eine am anderen Leid sah.
Dass ein Mensch ohne Besitz die Kunst des Lebens beherrschen muss
und einer, der besitzt, keine Kunst, auch die Kunst des Lebens,
nicht braucht und am Ende nichts mehr versteht, das wussten zwar die
Zigeuner, nicht aber die Bauern ... .
Für alles schienen die Zigeuner eigene Bräuche zu haben; für die
Feierlichkeiten, die Kleidung, die Musik, die Erziehung. Was den
anderen verboten war, das erlaubten sie sich, ließen es sich auf
Kosten der anderen gut gehen, zogen in der Gegend herum und
kümmerten sich um nichts, nicht um die göttliche Weltordnung, nicht
um die des Kaisers.
Dass auch sie strengen Gesetzen gehorchten, davon wussten die Bauern
nichts, es war kein Interesse für Fremdes, nur Ablehnung vorhanden.
Und so boten sie sich dar, zeigten aller Welt, wie man Feste feiert,
wie Hochzeiten begangen werden, wie man Toten das letzte Geleit
gibt.
Lachen & Weinen, Flüstern & Schreien, Freude & Schmerz lagen eng
beieinander, kein Blatt Papier hätte Platz dazwischen gefunden, und
doch waren sie deutlich
voneinander getrennt.
Die Gefühle und das Gemüt waren etwas anderes als bei den
Einheimischen, wo nichts dergleichen denkbar war.
Die Zigeuner zelebrierten auf offener Straße, Freude & Leid in einem
hierorts nicht bekanntem Maß, wo nicht einmal hinter verschlossenen
Türen offen gesprochen oder Regung gezeigt wurde.
Fassungslos & erstaunt, geblendet von so viel Prunk in Aussehen &
Ausdruck, spähten sie also beim Fenster hinaus, heimlich auch dies,
man wollte sich keine Blöße geben, war nicht bereit, sich beim
Schauen sehen zu lassen.
Wenn sie an die Türen klopften, öffnete man nicht ganz, stellte
ihnen verächtlich Pfannen & Töpfe zum Flicken hinaus, legte die
stumpfen Messer aufs Fensterbrett, gab sich herablassend, schlug
einen unfreundlichen Ton an, bezahlte sie schlecht, rief ihnen
Schimpfwörter nach: Gesindel! Diebsvolk! Landstreicher! Luder!
Bettelmensch! Hurenweib! oder eben Zigeuner, was der niedrigst
gemeinte aller dieser Begriffe war, und bezeichnete man unter den
Ansässigen jemanden als Zigeuner oder Zigeunerin, dann galt dies als
das Schlimmste, was sich diese einfachen Geister vorstellen konnten.
Das Zigeunermensch oder Das Mensch galt als der einheimische
Ausdruck für Hure.
Wer selbst im eigenen Bauernvolk so bezeichnet wurde, war
ausgestoßen & verachtet. Um als das benannt zu werden, reichten
weitaus kleinere Dinge, als mit einem Mann zu schlafen.
Es reichte, jemandem zu widersprechen, sich als Frau das eigene Brot
zu verdienen, persönliche Gedanken & Ansichten zu haben, etwas
geschmackvoller gekleidet zu sein, als es üblich & notwendig war.
Nun aber sahen sie den anderen Reichtum des Bettelvolkes: die Musik,
die Geiger, die Tamburinspieler, die Sänger & Sängerinnen, die
Tänzerinnen.
Der Königszug Salomons zum Tempel im Heiligen Jerusalem hätte
prächtiger nicht sein können.
Denn derlei Szenen & Gewandungen kannte man nur von den Weihnachts-
& Osterkrippen in den Kirchen, doch das lag in einer fernen Zeit, in
einem fremden Land.
Diese Leute aber brachten die Fremde, die Ferne in die enge Welt der
kleinen, abgelegenen, fast vergessenen Ortschaften.
Es waren auf einmal leibhaftige Menschen, die sich aufführten wie
Fürsten, wenn sie feierten, sich nicht schämten, sich aufzuputzen,
ihre Eitelkeit, ihren Stolz zur Schau zu stellen.
Vor allem die Frauen und jungen Mädchen konnten sich nicht genug
sehen an den Gewändern & Gesichtern der Zigeunerinnen und nicht an
den Männern, die sich so vollkommen von den ihren unterschieden.
Es gingen ihnen die Augen auf & über, es schlugen ihre Herzen wie
Trommeln gegen die Brust, es lief ihnen kalt den Buckel hinunter, es
stellten sich ihnen die Haare auf, sie sahen plötzlich ihr Gefängnis
in ihren festen, kalten Mauern.
Die Männer in den Häusern aber hatten genauso viel zu schauen, ihre
Blicke & Gedanken hingen an den vorüber ziehenden Weibern.
Es stieg ihnen heiß auf, sie leckten & schnalzten mit den Zungen,
zogen den Zigeuner-Frauen quasi die Kleider aus, hoben ihre Röcke
und fuhren ihnen zwischen die Schenkel.
Verdammt, das müssten Nächte sein!
Was ist dagegen schon die Alte neben einem oder ein Puff in der
Stadt, wo sie einen abfertigen wie einen pissenden Hund.
Zuerst das schummrige Wartezimmer mit Bildern und roten Polstern,
mit Samtvorhängen nebst Quasten & Kordeln, warmen süßlichen
Parfümgerüchen und dann, wenn man endlich zu seiner "Mitzi"
aufgerufen wurde, konnte es ihr nicht schnell genug gehen, mit einem
fertig zu werden.
Schließlich erkannte das Luder gleich, dass man nur ein
ausgehungerter Bauer war mit zehn / zwölf Kindern am Hals, einer
Betschwester im Bett, wo nie wirklich was lief und man mit so einem
auf die denk- & machbar schnellste Art zum Ende kommen sollte.
Ganz anders, wenn irgendwelche Stadtherren kamen, vielleicht mit
Gehrock & Zylinderhut, mit Zigarrenkisten, Pralinenschachteln &
Champagner unterm Arm.
Da sah einer gleich, dass die sich auf länger einrichteten, in den
Freudenhäusern ein- & ausgingen wie unsereins beim Kramerladen, ihre
Sprüche & Schmähs draufhatten, die Huren beim Namen & Kosenamen
kannten, ja hier so gut wie zu Hause waren.
Hier gaben sie den Charmeur, egal wie & mit was sie ihr Geld
verdienten, taten weltläufig & gewandt, poussierten & kokettierten,
waren mitunter gar geschminkt, mit einer Blume im Knopfloch.
Kein Wunder wollte man so einen dumpfen, knausrigen Bauern
loswerden, der sowieso keine Ahnung hatte von der Lust der
exquisiteren Art!
Hat so einer vielleicht schon einmal etwas von verschiedenen
Stellungen gehört, einer, der darauf ausgebildet war, ein jedes Mal
Kinder zu machen, wie es der Pfarrer von der Kanzel
herunterpredigte?
Der wollte nur wieder einmal heraus aus dem kuhwarmen Stallgeruch
des Bauernhauses.
Er war doch nur scharf drauf, zwei andere Schenkel zu sehen, einen
feuchten, bereiten Weiberarsch ohne eine leidende Miene, eine
herablassende Hingabe, ein peinliches Darübersteigen in der
Finsternis.
Darum verstand er auch nichts von was Besserem, war nicht willens,
ein / zwei Scheine draufzulegen für eine andere oder erweiterte
Vorstellung! Wozu sich also anstrengen!?
Sodass so ein Bauer immer & immer wieder kommen konnte, um es einmal
richtig zu kriegen, wieder & wieder meinte, das gibt's doch nicht,
dass dies alles ist!
Ein jedes bisschen Geld, das er nicht nach Hause brachte, musste er
rechtfertigen. Wie & was!
Ohnehin genug, dass er sagen musste, man hatte ihm wohl falsch
herausgegeben oder der Rossmetzger war ein Schweinehund oder das
Mittagessen beim Schwarzen Mohren, beim Wilden Kaiser viel zu teuer,
der Notari, der Wirt & andere Halsabschneider hatten ihn übers Ohr
gehauen, verlangten halt Stadtpreise von einem Bauern, neuerdings.
Half das auch nichts, musste er tiefer in die Lügenkiste greifen,
und am Ende lief es darauf hinaus, dass sie einen Bauern betrogen &
betackelten und schließlich das Gegenteil behaupteten.
Wurde die Alte daraus nicht klug, konnte er auch nichts machen und
drehte sich auf die Seite, um endlich einzuschlafen, zu träumen von
einer anderen Art der Befriedigung, wo es ihm endlich eine machte,
wie er es sich dachte. Ach, dass es so schwer war, auf dieser Erde
selbst in den einfachsten Dingen, nicht hintergangen zu werden.
Wie man es drehte & wendete, man bekam es nicht, war alles Lug &
Trug in einem fort.
Aber so eine Zigeunerin, das müsste es sein, wusste sie vielleicht
nicht allerhand, wovon die andern nichts verstanden?
Handlesen, Zukunft wie Vergangenheit deuten, Kräuterweiber waren sie
gewiss auch, von allerlei Geheimnissen wussten sie was, mit Himmel &
Erde standen sie in Verbindung, mit Gott und dem Teufel, sie konnten
Frauen fruchtbar & unfruchtbar machen, Abtreibungen vornehmen,
segnen & verfluchen nicht nur zum Schein, Betteln & Heulen, Lachen &
Vergnügen bereiten.
Ihre Künste in der Liebe, ihre Ratschläge diesbezüglich - legendär.
Der Blick einer Zigeunerin konnte verhexen & bezaubern, sowieso
verlor ein Mann ohnehin gleich den Verstand, und hätte er nicht die
Rache des Stammes, der Familie gefürchtet, er würde sich ohne
Umschweife mit der ersten Zigeunerin, die ihm unterkam, auf den
Boden geworfen haben.
Am Ende dieser Gedanken & Möglichkeiten schließlich fiel einem
wieder diese alte Geschichte ein, wo sich einer von ihnen an so
einer vergriffen hatte, sich rettungslos vergafft & verspekuliert
mit seinem Leben nicht nur, sondern mit Haus & Hof & allem, was er
besessen hatte, mit Weib & Kindern sogar, dafür bezahlen hatte
müssen.
War die alte Geschichte eines alten Bauern aus dieser Gegend, und
noch im neunzehnten Jahrhunderts soll sie passiert sein.
Es hatte begonnen wie oft etwas anfängt - mit leichten Füßen &
Gedanken, wie ein Traum, einem winzigen, einzigen Augenblick, einem
Funken aus einem Ofenfeuer, den aufgestempelten Röslein eines
Weiberkittels, einer Ringellocke in der Stirn, einem goldenen
Ketterl auf brauner Haut, vor allem aber mit einem Blick aus tausend
Jahre alten Augen mit langen, schwarzen Wimpern.
Seinen Zenit, wie man so sagte, hatte er bereits überschritten, war
- äußerlich gesehen - eigentlich fertig mit dieser Sache.
Doch, dass es, gerade weil es vorüber war, eine besondere Bedeutung
hatte, wusste nur er, vielleicht noch seine recht bigotte Ehefrau,
die er immer noch bedrängte in bestimmten Nächten, zu mancher Zeit,
die seine Versuche, den Bock zu spielen, über sich ergehen ließ wie
eine Amtshandlung, eine unvermeidliche Pflicht.
Sie spürte längst keine Lust mehr dazu, wenn sie überhaupt je etwas
empfunden hatte.
Wie auch, wenn danach die Schwangerschaften gekommen waren, die
Geburten & Fehlgeburten.
Zwölf Kinder hatte sie ausgetragen, vier oder fünf ganz verloren,
eins von den zwölfen war eine Totgeburt gewesen.
Schon seit der ersten schweren Niederkunft, nach der sie Monate das
Bett nicht verlassen konnte, weil sie gelähmt gewesen war, hatte sie
keine Lust und kein Verlangen mehr gehabt.
Gefürchtet hatte sie ihn damals, denn sie war entzwei gerissen,
konnte weder Stuhl noch Urin bei sich behalten, sie war gewiss eine
schöne Frau, doch sie war auch ein Wickelkind.
Damit hatte sie seit der ersten Geburt leben müssen, dennoch dem
Gatten zu Willen sein und Kind um Kind auf die Welt bringen, kleine
Knechte & Mägde herbeischaffen, das Eheversprechen einlösen Nacht
für Nacht und Jahr um Jahr.
Gerade wie ihre Schwester, die Klosterfrau, ihr Armuts- &
Keuschheitsgelübde erfüllte.
Das eine wie das andere war unendlich schwer, und sie standen
einander in nichts nach, wenn auch die eine der anderen nichts
erzählte, weil über das Leiden geschwiegen sein musste, das Leiden
war gottgegeben & gottgefällig.
Das Leiden war eine Gnade, es war der Schlüssel zum Himmelreich.
Sterben hieß das Jammertal verlassen und zur Belohnung einzugehen in
die Himmlische Herrlichkeit.
Dennoch sah sie sich leid an ihrer Schwester, die keine Kinder
gebären musste, nur für sich selbst verantwortlich war, die keine
Angst zu haben brauchte vor der Nacht, den Geburten, der Armut, die
mit den vielen Kindern daherkam, sich mehr & mehr breit machte, ganz
selbstverständlich sich an allen Ecken & Enden niederließ, denn das
Armutsgelübde war bei ihr auch dabei, wenn auch nicht direkt
verlangt.
Gott, der Herr, hieß es, würde einen dereinst selber fragen, wie man
es gehalten hatte mit der Sünde, mit der Religion, ob man sein
Schicksal angenommen & getragen habe in Stille, ob man sein Gebet
zur Arbeit & seine Arbeit zum Gebet gemacht, seine Sünden gebüßt,
seine Erlösung verdient hat.
Doch nun, nach all den Jahren der Fruchtbarkeit & Pflichterfüllung,
der Fügsamkeit und des Gehorsams, schien das Schlimmste vorüber.
Der Bäuerin ging es nicht mehr nach der Weiber Art, sie hatte es
überstanden & ausgehalten, sie war zusammengebrochen & wieder
aufgestanden, sie hatte Gott und dem Gatten vergeben.
Sie war beinahe vollkommen zufrieden, es war endlich ihr
persönlicher Feierabend da, ihre Herzensruhe, und sie genoss einen
jeden Tag, denn die Schrecken der Schwangerschaften & Geburten
hatten ein Ende, obwohl sie nicht mehr geglaubt hatte, dass sie je
zu Ende gehen könnten, dass sie das würde erleben dürfen.
Doch eines Abends klopfte es zu bald nachtschlafener Stunde an die
Haustür, und draußen standen zwei Zigeuner, die den Bauern
verlangten.
Der nämlich sollte sie für einige Wochen auf einer wertlosen Wiese
Station machen lassen, sie gegen Bezahlung mit Lebensmitteln, Holz &
Wasser versorgen.
Oben am Weg, der am Haus vorbeiführte und hier fast zu Ende war, sah
man die Planwagen, von innen beleuchtet wie Lampions - einer hinter
dem anderen - stehen.
In die Stille der Nacht hinein war nun Geschrei & Kindergeplärr zu
hören.
Es war kalt, dort & da lag noch alter Schnee, und von den
umliegenden Bergen wehte es eisig herunter.
Der Bauer zögerte - die zwei Männer, die vor ihm standen, sahen
nicht vertrauenserweckend aus -, und je länger er überlegte, desto
näher kamen sie.
Als einer einen Schüppel Geld aus dem Hosenbund zog, konnte er dort
den silbernen Griff eines Messers sehen.
Der Zigan steckte dem Bauern das Geld in die Hose. Der ging und kam
fürs Erste mit etlichen Brotlaiben und einem Korb voller Eier, mit
Schmalz & Salz, mit Milch & Speck zurück.
Dann machte er sich auf, ihnen die Stelle zeigen, wo sie bleiben
könnten, eine Woche und keinen Tag mehr. Handschlag. Noch zweimal
die gleiche Ration für dasselbe Geld.
Das gefiel dem Bauern schon nicht mehr, war bereits eine Frechheit,
meinte er, nickte aber heftig, um die Sache los zu sein.
Wasser sollten sie holen am Trog vor dem Haus vor Tagesanbruch und
am späten Abend, ja und Holz so & so viel, dann & dann, dort & dort.
Noch am selben Abend treibt es den Bauern um, im Zigeunerlager ist
es still & finster bis auf ein Feuer, dennoch hört er in die
Finsternis, lugt & lost, denkt & sinniert, geht wie ein Wächter um's
Haus.
Da steht auf einmal eine Gestalt beim rinnenden Wasser, trinkt &
schöpft.
Es ist eine Frau, das sieht er bald, dicker Rock, Stiefel, glänzende
Jacke, nach hinten gebundenes Kopftuch, die Haut so dunkel, dass er
im Gesicht nur das Weiß der Augen erkennt, goldenes Ohrgehänge.
Aus der Stube und dem Vorhaus fällt ein wenig Licht auf sie. Sie
hält inne, lächelt, weiße & goldene Zähne.
Eine junge, gesunde Stute, denkt der Bauer, an den Zähnen erkennt
man die Jugend, den Reichtum, an den Zähnen und den Händen.
Etwas ist passiert in diesen Sekunden der ersten Blicke, in dieser
unbestimmbaren Zeit fiel die Entscheidung, wurde zur
Schicksalsbegegnung, ohne Wissen & Verstand, einfach & eindeutig,
ohne ein Wort.
Er dreht sich um und geht hinein, tut die ganze Nacht kein Auge zu,
sieht es draußen tagen, hört schon das Wasserholen am Brunnen vor
dem Haus.
Sie flüstern, sind nicht unhöflich und rücksichtslos.
Am Morgen fehlen die ersten zwei Hühner.
Man sagt noch nichts, stellt sich blind, lässt sich zum Schein für
dumm halten, die Männer gehen an die Arbeit, auch am Hof flicken sie
Töpfe & Kessel, schleifen die Messer & Scheren.
Jeden Abend kommt die junge Zigeunerin, und der Bauer kann nicht
anders als sie anschauen, auf sie warten.
Sie hat verstanden, sie werden handelseinig, gehen ins Heu, und zum
ersten Mal erlebt dieser über die Fünfzig hinausgehende, an die
dreißig Jahre verheiratete, einfältige Mann, was es heißt, mit einer
Frau, die was davon versteht, zu schlafen.
Er kommt um den Verstand, den ganzen Tag schlürft er herum mit
nichts anderem im Sinn als die Zigeunerin.
Überall heißt es, die Zigeuner hätten den Hof übernommen, und der
einzige, der sich noch hinauftraut, ist der Schwarze Kramer, der
Jud' für den es kein Fürchten gibt vor etwas oder jemandem oder, für
den die Angst Gewohnheit ist und Selbstverständlichkeit, seit er
sich in der Welt bewegt.
Er, der immer gewandert ist von einem Ort zum anderen, in Fallen
gegangen, in den Hinterhalt geraten, oft & oft überfallen &
ausgeraubt, ein Opfer seiner anfänglichen Gutgläubigkeit &
Leutseligkeit.
Heute schreckte ihn nicht mehr viel, die Vorsicht war seine
Begleiterin überall, und er war es, der Kunde brachte, verlässliche,
so man ihn fragte.
Nicht, dass er gern und zu viel geredet hätte, doch das eine oder
andere konnte ihm schon entlockt werden.
Ein / zwei Stamperl Schnaps, ein Krügerl Bier, ein Gläschen Wein
oder mehrere lösten auch seine Zunge, eine gute Speckjause, eine
Übernachtung, ein wenig warmes Wasser zum Waschen, ein Platz am
großen Tisch der Bauernfamilie, etwas dieser Art war der Preis
dafür.
So auch, dass es der Bauer vom O. Hof mit einer blutjungen
Zigeunerin trieb, Nacht für Nacht, und dass ihr ganzes Volk dort
inzwischen das Sagen hatte.
Der Schwarze Kramer sah es so, dass sie sie quasi opferten, um
bleiben zu können, sich zu versorgen, und dass der Bauer nicht mehr
zurückkonnte.
Würde er sie hinauswerfen, fortjagen und mit ihr das ganze Lager,
war garantiert, dass sie nicht ohne weiteres gehen würden.
Einen leisen Versuch hatte es bereits gegeben, war ihm aber schlecht
bekommen, dem Bauern.
Sei er vielleicht einer, der mit einer ihresgleichen schlief und
sich dann, mir nichts dir nichts, verändern wollte, um in den alten
Stand zu kommen?
Einerseits war er in eine gewisse Abhängigkeit geraten, hatte sein
Geschlecht nicht unter Kontrolle gehabt, war verrückt nach ihrem
Körper gewesen, hatte es sich gut gehen lassen mit ihr, andererseits
konnte er dafür nicht seinen jahrhundertealten, ererbten Hof
verlieren.
Nichtsdestoweniger war er auf dem besten Weg dorthin.
Als er, das bisher einzige Mal, davon angefangen hatte, ihr
klarzumachen, dass alles ein Ende haben müsse und der Augenblick
langsam gekommen sei, leider!, da sprang sie ihm ins Gesicht wie
eine läufige Katze, kratzte & fauchte, biss ihn, behauptete gar,
schwanger zu sein, und wenn er es wagen sollte, sich ihrer & ihres
Volkes auf so eine schäbige Art zu entledigen, würde er schon sehen,
wohin das führt.
Den Hof, den Stall würden sie ihm abfackeln, um Leib & Leben müssten
sie alle fürchten, und kein Stein soll auf dem anderen bleiben.
Ein Zeichen würde es sein, das man weitum verstehen könnte, auf dass
gesehen werde, wie es denen ergeht, die versuchten, mit Zigeunern zu
spaßen.
Danach hatte er lange nichts mehr gesagt, dürfte nach so einer
Drohung aber das Verlangen nach der Geliebten fast verloren &
vergessen haben.
Wie es derweil zwischen ihm und seiner Frau gestanden haben mochte,
ist ein anderes Kapitel.
Sie war nach diesem ungeheueren Ereignis nicht mehr sie selbst. In
Gestalt einer anderen Person quasi stand sie neben der ehemaligen
Frau des Bauern, die sie einst gewesen war und traute ihren Augen &
Ohren, ihrem Verstand nicht mehr.
Wer hätte sich einen solchen Alptraum überhaupt auszudenken
vermocht, und hier war er über Nacht beinah Wirklichkeit geworden.
Hatte sie tatsächlich dieses Leben hier mit ihrem Mann, für ihn,
ihre Kinder und den Besitz ertragen, um am Ende diesen Wahnsinn
erleben zu müssen?
Eines Nachts, als sie wieder im Heu lagen und das Kreischen und die
Schreie des Zigeunerweibs zu hören waren bis in die einsame
Schlafkammer der Bäuerin drangen, da stand sie auf, um auszuführen,
was inzwischen in ihr zum Plan geworden war.
Ihre Flucht, ihr Fortgang, ihr Verschwinden war das, womit sie sich
in dieser Zeit des Schreckens und der Schande beschäftigt hatte.
Jetzt stand sie auf und ging, ohne irgendetwas mitzunehmen, keine
Wegzehrung, kein Andenken, keine noch so kleine Erinnerung, nichts
Notwendiges oder Nützliches.
Sie war fertig mit ihrer Arbeit, ihrem Verständnis, ihrem Leiden in
diesem Haus nicht nur, sondern sie hatte für sich allein und im
Geheimen abgeschlossen mit ihrem Leben.
Lange schon war alles ausgelöscht, ja erloschen in ihr, ihr müder
verbrauchter Körper nur noch eine dünne Hülle für ihre verwundete
Seele, ihr schweres Herz, zerbrochen das Gefäß sogar.
Sie ging in dieser Nacht und kam nicht mehr, und niemandem hatte sie
es gesagt.
Jahre später fanden sie eine vermoderte Leiche, ein Skelett, die
Holzknechte bei der Arbeit, beim Ausschneiden des Unterholzes, dem
Säubern des Waldes von umgestürzten Bäumen & Gestrüpp.
An ein paar Einzelheiten war die einstige Bäuerin vom O. Hof noch zu
erkennen gewesen.
Der Kopf war vom Leib getrennt, weshalb sie zuerst ein Verbrechen
vermuteten, am Ende aber ist man zu dem Schluss gekommen, dass sie
sich erhängt haben musste und durch die Verwitterung und das
Umstürzen des Baumes in dieser Weise zugerichtet wurde.
Davon, wie es am Hof selber weitergegangen war, ist im einzelnen nur
nach & nach das eine oder andere bekannt geworden, nichts
Zusammenhängendes, nichts Chronologisches, nichts Genaues, doch wie
die Art, wie alles unterging, wie das Ende aussah, lässt auf die
Verhältnisse & Ereignisse schließen, die vorausgegangen sein müssen.
Nach dem Verschwinden der Bäuerin dürfte dem Bauern der Ernst der
Lage im letzten klar gewesen sein, mehr & mehr rückten die Zigeuner
heran, gingen ungeniert ein & aus, bedienten sich an den
Erzeugnissen des Hofes.
Als er nach der erfolglosen Suche nach seiner Frau, nach einigen
Tagen & Nächten zurückkam, hatten andere das Regiment übernommen.
Seine Knechte & Mägde waren weg, mit ihnen die erwachsenen &
halbwüchsigen Kinder.
Er fand die Früchte seiner Arbeit vor, die Missernte seines
Bauernlebens.
Seit dieser Hof von Generation zu Generation weitervererbt wurde,
vom ältesten Sohn zum ältesten Sohn, hatte es etwas Derartiges oder
Vergleichbares nicht gegeben.
Die Tiere plärrten im Stall, die Schweine gingen die Kober hoch, die
Hühner-, Schaf- & Ziegenställe waren leer, die Türen & Balken weit
offen.
Oben im Zigeunerlager wurde gelärmt, getanzt, gegeigt, gesungen &
gegessen, am Lagerfeuer feierte ein ausgelassenes Volk in seinen
Festgewändern.
Der Bauer beobachtet verstohlen, ohne sich blicken zu lassen, das
Treiben und wie sich seine Bett- & Heugespielin mit einem Mann ihrer
Herkunft und ihres Temperamentes paart & vergnügt.
Sieht, wie er ihr in die Röcke fährt und mit welcher teufelsgleichen
Wildheit sie ihre Lust & Wollust begehen.
Später, als sie am Hof erscheint und sich wie die Herrin des Hauses
aufführt, über das Verschwinden der Bäuerin, das sie längst
prophezeit hatte, in Entzücken gerät, da fällt er über sie her,
würgt sie, drückt ihr die Gurgel zu, ist nicht imstande,
loszulassen, bis ihr Widerstand erstirbt und sie leblos zu Boden
sinkt.
Als er gewahrt, was er getan hat, versucht er noch die Tat zu
vertuschen, die Spuren zu verwischen, was ihm aber in seinem
verstörten Zustand nicht gelingt.
Viel später wird auch seine Leiche gefunden, die Zigeuner haben ihn
gerichtet, sein Leben für eins der ihren genommen.
Sie zogen weiter, ließen einen leeren Hof zurück, der nach & nach
verfiel.